Messier 102: Status der Identifizierung dieses Messier-Objekts

  von Hartmut Frommert


Abstract

   Messier 102 war lange ein "vermißtes" Messier-Objekt. 
   In jüngerer Zeit wurde dieser Eintrag in Messier's Katalog häufig
   als Duplikation des vorigen, M101, angesehen. Historische Evidenz
   spricht dagegen eher dafür, daß M102 mit der Galaxie
   NGC 5866 identisch ist.


Der französische Astronom Charles Messier erstellte seinen bekannten
"Katalog von Nebeln und Sternhaufen" in den Jahren 1758 bis 1781 [1]. 
Neben eigenen Entdeckungen enthält der Katalog auch bereits zuvor bekannte 
Objekte, deren Position Messier überprüft hatte, insbesondere auch
Beiträge von Pierre Méchain, mit dem Messier in den Jahren vor 
1781 zusammenarbeitete. 

Im Frühjahr 1781 hatten Messier und Méchain mit großem Eifer 
neue neblige Objekte katalogisiert. Bis zum 13. April 1781 (übrigens einem 
Freitag) hatte Messier die Positionen von 100 Objekten überprüft. 
Nun nahte die Drucklegung des französischen Jahrbuchs, der "Connoissance 
des Temps" für das Jahr 1784, wo der Katalog publiziert werden sollte. 
So fügte Messier die letzten drei ihm von Méchain gemeldeten 
Objekte ohne eigene Verifikation am Ende des Katalogs unter den Nummern 101, 
102 und 103 ein unter dem Vermerk 
"von M[onsier] Méchain, welche M. Messier noch nicht beobachtet hat."
Die gedruckte Version enthält nur für M 101 eine Position, von 
M 102 und M 103 liegen lediglich Beschreibungen vor. 
Messier hat allerdings in seinem persönlichen Exemplar des Katalogs 
für beide Objekte handschriftlich Positionen nachgetragen, s.u.

Die Beschreibung für M 102 lautet:

  102. Nebel zwischen den Sternen Omikron Bootis & Iota Draconis: er ist
       sehr schwach; in seiner Nähe ist ein Stern 6. Größe.

Etwa zwei Jahre nach Fertigstellung des Katalogs, am 6. Mai 1783, schrieb 
Pierre Méchain einen Brief an Bernoulli in Berlin, der zum einen im 
französischen Original in den Memoirs der Berliner Akademie [3], zum 
anderen in deutscher Übersetung im Astronomische Jahrbuch für 1786 
von Johann Elert Bode [4] publiziert wurde. Neben anderen Beiträgen, u.a. 
zum neuentdeckten Planeten Uranus, beschreibt Méchain seine 
Nebel-Beobachtungen, soweit sie nicht schon im Messier-Katalog von 1781 
enthalten sind. 
Aufgrund dieses Briefs haben Helen Sawyer Hogg im Jahre 1847 [10, 11] und 
Owen Gingerich im Jahre 1953 [12] die Objekte M 104 bis M 109 dem modernen 
Messier-Katalog hinzugefügt. 
In einem Nachsatz zu den Nebel-Entdeckungen widerruft Méchain hier 
seine Entdeckung von M 102 mit folgenden Worten:

  Ich will nur hinzufügen daß Nr. 101 & 102 auf S. 267
  der Connoissance des tems für 1784 nichts als ein und derselbe
  Nebel sind, der für zwei gehalten worden ist, wegen eines Fehlers in
  den [Himmels-] Karten.

Bode hat diese Bemerkung an den Anfang von Méchain's Nebel-Beschreibung 
vorgezogen und für sein Astronomiches Jahrbuch für das Jahr 1786 
etwas ausgeschmückt:

  Seite 267 der Connoissance des tems f. 1784. zeigt Herr Messier unter 
  No. 102 einen Nebelfleck an, den ich zwischen Omikron Bootes und 
  Iota Drachen entdeckt habe; dies ist aber ein Fehler. Dieser Nebelfleck
  ist mit dem vorhergehenden No. 101 ein und derselbe. Herr Messier hat 
  durch einen Fehler in den Himmelscharten veranlasst, denselben nach dem 
  ihm mitgetheilten Verzeichnisse meiner Nebelsterne verwechselt.

Trotz dieser Publikation und einer Erwähnung bei Bigourdan 1907 [7] wurde 
Méchain's Brief für lange Zeit praktisch vergessen. Erst 1947 hat 
Helen Sawyer Hogg die Veröffentlichung im Berliner Jahrbuch wiederentdeckt 
[10, 11]. Nachfolgende Publikationen haben diese Sicht dann häufig 
übernommen [z.B. 14, 16].

Dennoch regen sich Zweifel an Méchain's Widerruf: 
Erstens waren sowohl Messier wie auch Méchain sorgfältige 
Beobachter, belegt durch die Tatsache, daß zumindest zu allen anderen
Katalog-Einträgen ein astronomisches Objekt identifiziert werden konnte. 
Zum anderen unterscheiden sich die Beschreibung von M 101 und M102 erheblich; 
M 101 wird wie folgt beschrieben:

  101. Nebel ohne Stern, ziemlich dunkel & sehr groß, von 6 oder 7
       [Bogen-] Minuten Durchmesser, zwischen der linken Hand des Bootes und
       dem Schwanz von Ursa Major. Er ist nur schwierig zu erkennen wenn man
       die Drähte [des Mikrometers] beleuchtet.

Es erscheint zweifelhaft, ob hiermit dasselbe Objekt gemeint ist. 
Drittens hat Méchain hat seinen Widerruf nur in einer Bemerkung in einem 
Brief an die Berliner Akademie geäußert, der zwei Jahre nach der
Publikation geschrieben wurde, niemals aber z.B. in Frankreich 
veröffentlicht, weder in der "Connoissance des Temps" noch in den 
Veröffentlichungen der Akademie, und das obwohl Méchain selbst die 
"Connoissance" zwischen 1785 und 1792 herausgegeben hat (Jahrgänge 
für 1788 bis 1794). 
Schließlich wurde auch nach 1783 in der "Connoissance" für 1787 der
Messier-Katalog unverändert abgedruckt, einschließlich M 102.

Zudem gibt es ein Himmelsobjekt, auf das Méchain's Beschreibung von
M 102 im Messier-Katalog von 1781 recht gut paßt [17, 18]. 
Zunächst enthält diese Beschreibung allerdings einen offenkundigen 
Fehler: Omikron Bootis ist mehr als 40 Grad von Iota Draconis entfernt! 
Dies macht es unmöglich, hiernach ein bestimmtes Objekt zu finden. 
Vermutlich ist wegen eines Satz- oder Schreibfehlers einer der Sterne falsch 
angegeben. So hatte J.L.E. Dreyer [6] spekuliert, Omikron Bootis könnte 
richtig, aber statt Iota Draconis könnte Iota Serpentis gemeint sein, und 
NGC 5928 als Kandidaten für M102 vorgeschlagen. Diese Galaxie kann aber 
aufgrund ihrer Lichtschwäche (nur 14. Größe) sicher 
ausgeschlossen werden; die schwächsten Objekte des Messier-Katalogs sind 
etwa von 10. visueller Größe.

Wahrscheinlicher ist die Annahme, daß Omikron eigentlich Theta Bootis 
lauten sollte, wie zuerst Admiral Smyth bemerkte [5]. In diesem Fall 
könnte M 102 ein Mitglied einer kleinen Galaxiengruppe in dieser 
Himmelsgegend sein. Die hellste dieser Galaxien ist NGC 5866, eine 
linsenförmige Galaxie etwa von 10. Größe, als einzige in dieser 
Gruppe hell genug für die Instrumente der beiden Franzosen, heller als die 
Messier-Objekte M 76, 91, 98 und 108, und etwa von gleicher Größe 
wie M 97 und 99. 
Smyth schlug allerdings die schwächere NGC 5879 vor, zudem gehört 
auch die bekannte Edge-on Galaxie NGC 5907 zu dieser Gruppe. 
NGC 5866 wurde 1917 etwa zeitgleich von Shapley und Davies [8] sowie 
Flammarion [9] vorgeschlagen und fand in jüngerer Zeit z.B. Einzug in den 
RNGC [15].

Auch befindet sich in der Nähe von NGC 5866, etwa 1 Grad entfernt und fast 
genau südlich, der 5.25-mag Stern HD 134190, der sich für das 
Aufsuchen des Objekts hervorragend eignet; diesen könnte Méchain 
in seiner Beschreibung mit dem "Stern 6. Größe" gemeint haben. 
In der Nähe von M 101 gibt es keinen derart hilfreichen Stern, die
Beschreibung paßt besser auf NGC 5866.

Noch wichtiger für die Identifizierung von M 102 ist allerdings 
historische Evidenz, daß Charles Messier wahrscheinlich NGC 5866 
beobachtet hat, als er versuchte, das Objekt M 102 zu verifizieren:

In seinem persönlichen Exemplar des Katalogs [2] fügte Messier
handschriftlich ungefähre Positionen für die Objekte M 102 und M 103 
ein, vermutlich schon kurz nach dessen Veröffentlichung im Jahre 1781.
Erst Flammarion, in dessen Besitz Messier's Exemplar durch glücklichen 
Zufall gelangt war, hat diese Positionen veröffentlicht [9]. 
Seine Position von M 103 liegt etwas mehr als 1 Grad nördlich und 
geringfügig östlich des wirklichen Sternhaufens.
Für M 102 lautet Messier's Position (für die Epoche etwa 1781): 

   RA: "14.40", Dec: "56." (ca. 1781)

Präzediert nach Epoche 2000.0 wird diese Position:

   RA = 14:46.5, Dec = +55.1 (2000.0)

Wie bereits 1960 von Owen Gingerich [13] festgestellt, befindet sich an dieser 
Position kein auffälliges Objekt, das Messier gesehen haben könnte 
und zu Méchain's Beschreibung paßt. Jedoch steht NGC 5866 fast 
genau 20 Minuten oder 5 Grad in Rektaszension östlicher (und 
geringfügig nördlicher, ein Winkelabstand von nahezu 3 Grad):

   RA = 15:06.5, Dec = +55.7 (2000.0)

Da Messier Himmelskarten mit einem Koordinatennetz mit 5 Grad Abstand benutzte,
könnte ein Fehler in der Datenreduktion, etwa ein einfacher Schreibfehler 
am Gradnetz oder ein Ablesefehler, die Abweichung erklären. Ein 
ähnlicher Fehler war Messier bereits bei der Bestimmung der Position von  
M 48 (allerdings in Deklination) unterlaufen.

Es erscheint daher wahrscheinlich, daß Messier NGC 5866 beobachtet hat, 
als er die Position von M 102 bestimmte, letztere aber aufgrund eines 
reproduzierbaren Fehlers falsch notiert hat [19].



Referenzen:

 [1] Charles Messier, 1781. 
     Catalogue des Nébuleuses et des Amas d'Étoiles.
     Connoissance des Temps, ou Connoissance des Mouvemens Célestes,
     pour l'Année bissextile 1784, Paris, 1781.
     S. 227-272. Hier S. 266 und 267.

 [2] Charles Messier, 1781.
     Persönliches Exemplar seines Katalogs, Ausgaben von 1780 (2. Version,
     M 1 - M 68) und 1781 nebst handschriftlichen Notizen.
     Aus der Bibliothek von Camille Flammarion.

     Von besonderem Interesse ist der handschriftliche Eintrag der Position
     von M 102 auf S. 266 in Messier's persönlichem Exemplar des Katalogs
     von 1781.

 [3] Pierre Méchain, 1783. 
     Extrait No. 9 de la Correspondence de M. Bernoulli.
     Nouveaux Mémoires de l'Académie Royale des Sciences et 
     Belles-Lettres, année MDCCLXXXII (1782), S. 46-51 (gedruckt 1784).

 [4] Johann Elert Bode und Pierre Méchain, 1783. 
     Ueber die Bahn des zweyten Kometen von 1781. Entdeckung einiger 
     Nebelsterne; die Elemente der Bahn des neuen Planeten und astronomische 
     Beobachtungen. Von Herrn Mechain, in Paris. 
     Auszug aus einem Brief an Hr. Bernoulli vom 6. Mai 1783.
     Astronomisches Jahrbuch für das Jahr 1786. nebst einer Sammlung der 
     neuesten in die astronomischen Wissenschaften einschlagenden Abhandlungen, 
     Beobachtungen und Nachrichten. Berlin, 1783.
     S. 231-237. Hier S. 233.

 [5] William Smyth, 1844. 
     The Bedford Catalogue: From A Cycle of Celestial Objects.
     John W. Parker, London. Hier S. 335.

 [6] J.L.E. Dreyer, 1895.
     Index Catalogue of Nebulae Found in the Years 1888 to 1894, with Notes and 
     Corrections to the New General Catalogue.
     Mem. Roy. Astron. Soc., Vol. 51, S. 185-, hier S. 243.

 [7] Guillaume Bigourdan, 1907.
     Observations des Nébuleuses et d'Amas Stellaires.
     Chapitre II. Le Découvertes des Nébuleuses.
     II. De 1700 à W. Herschel. 
     Annales l'Observatoire de Paris. Observations. 1917. S. E.135-141.
     Hier S. E.140.

 [8] Harlow Shapley and Helen Davies, 1917.
     The Messier Catalogue.
     Publications of the Astronomical Society of the Pacific, Vol. 29, S. 177.

 [9] Camille Flammarion, 1917. 
     Nébuleuses et Amas d'Étoiles de Messier.
     L'Astronomie. Revue de la Societé Astronomique de France,
     November 1917. S. 385-400.

[10] Helen Saywer [Hogg], 1947.
     Catalogues of Nebulous Objects in the Eighteenth Century.
     Journal of the Royal Astronomical Society of Canada, Vol. 41, S. 265-273.

[11] Helen Saywer [Hogg], 1948.
     Méchain's additions to Messier's catalogue.
     Astronomical Journal, Vol. 53, S. 117.
  
[12] Owen Gingerich, 1953.
     Messier and His Catalog. Part II.
     Sky and Telescope, Vol. 12, September 1953, S. 288.
     Nachdruck in [16].

[13] Owen Gingerich. The Missing Messier Objects.
     Sky and Telescope, Vol 20,  October 1960, S. 196. 
     Nachdruck in [16].

[14] Kenneth Glyn Jones. Messier's Nebulae & Star Clusters. 
     Erste Auflage: Faber, 1968.
     Zweite Auflage: Cambridge University Press, 1991.

[15] Jack W. Sulentic and William G. Tifft, 1976. 
     The Revised New General Catalogue of Nonstellar Astronomical Objects. 
     University of Arizona Press.

[16] John H. Mallas and Evered Kreimer. The Messier Album. 1st edition.
     Sky Publishing Corporation, 1978.

[17] Don Machholz. Messier Marathon Observer's Guide - Handbook and Atlas.
     MakeWood Products, 1994.
     Zweite Auflage: The Observing Guide to the Messier Marathon. A Handbook
     and Atlas.  Cambridge University Press, 2002.

[18] Hartmut Frommert, 1995.
     Messier 102. Posting von Mai 1995
     auf Usenet-Gruppen incl. news:sci.astro.research (10. Mai 1995) und 
     Mailing Listen.

[19] Hartmut Frommert, 1995-2005.
     Messier 102. An article on the controversy.
     http://messier.seds.org/m/m102d.html .
     Webseite zur Identifizierung von M 102. 
     Erstellt 12. Mai 1995, laufend aktualisiert.